Lange Zeit wurden die altnordischen Bearbeitungen der Geschichte von Sigurd und den Niflungen für die Urform des Stoffs gehalten, der auch dem mittelhochdeutschen Nibelungenlied zugrundeliegt. Gegen diese Sichtweise sprechen außer der schwierigen Überlieferungsgeschichte markante Unterschiede im deutschen und skandinavischen Erzählen von den Nibelungen. Lohnender ist es also, beide Traditionsstränge als alternative Varianten mit kulturspezifischen Eigenheiten in der Stoffdeutung und der poetischen Gestaltung zu betrachten. Im Seminar sollen daher zuerst die vermutlich ältesten altnordischen Bearbeitungen, die zum Niflungen-Zyklus gehörigen Lieder der Älteren Edda, gelesen und in Form eines Close Reading erschlossen werden. Weiter wird es darum gehen, die literarischen Deutungsmuster von Identität und Heldentum, Freundschafts- und Liebesbündnissen, Herrschaft, Verwandtschaft und Konfliktbewältigung, aber auch die spezifisch poetischen Sprechweisen mitsamt ihrer anspielungsreichen Bildlichkeit zu erfassen. Von besonderem Interesse sind mythische Denkfiguren und Darstellungsformen, wie sie sich beispielsweise in der Geschichte des verfluchten Drachenhorts zeigen. Auch die Widersprüche und Leerstellen in den teilweise miteinander konkurrierenden Gestaltungen des Stoffs in den Edda-Liedern sowie Formen nachträglicher Kohärenzbildung werden Gegenstand der Seminardiskussion sein.
Hier schließt die Lektüre von Ausschnitten der Völsunga saga an, die als Prosa-Erweiterung der Edda-Lieder eine romanhafte Gesamtdarstellung der Niflungen-Geschichte bietet. Im Mittelpunkt dieses Seminar-Abschnitts stehen die Unterschiede und Umbesetzungen im Schritt von der Lieddichtung zur Prosa, insbesondere im Bereich der Figurengestaltung. Den Abschluss bildet eine Gegenüberstellung der altnordischen und der mittelhochdeutschen Nibelungen-Konstellation. Vertiefte Kenntnisse des Nibelungenliedes werden nicht vorausgesetzt, doch ist eine kursorische Lektüre des Textes sinnvoll und empfehlenswert. Da die einschlägige Forschungsliteratur vorwiegend in englischer Sprache zugänglich ist, sind außerdem gute Englischkenntnisse wünschenswert.
Zur Anschaffung: Die Heldenlieder der älteren Edda. Übersetzt, kommentiert und hrsg. von Arnulf Krause. Stuttgart: Reclam 2001.
(Bitte lesen Sie ausschließlich diese Übersetzung! Ältere Übersetzungen sind im Internet verfügbar, doch weichen sie stark von den Originaltexten ab und sind stellenweise fehlerhaft.)
Zur vorbereitenden und begleitenden Lektüre:
1. Nibelungenlied
Zum Einstieg ist die unter folgendem Link verfügbare Zusammenfassung nützlich:
https://drive.google.com/file/d/1Y5N0dLBFw8M4Z-YYVO75s8MrsHSwKS4Y/view
Zweisprachige Ausgabe: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hrsg. v. Ursula Schulze; ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse. Reclam, Stuttgart 2001.
2. Völsunga saga
Thule. Altnordische Dichtung und Prosa, Bd. 21: Isländische Heldenromane. Hrsg. v. Felix Niedner und Gustav Neckel. Übertragen von Paul Herrmann. Jena 1923 [ND 1965], S. 37-136.
PDF unter: http://www.nibelungenrezeption.de/literatur/quellen/Geschichte%20von%20den%20Voelsungen.pdf
(Für das Seminar wird zusätzlich eine zweisprachige Ausgabe zur Verfügung gestellt.)
Teilnahme + Testat: kurze schriftliche Ausarbeitung (5 Seiten), in Gruppenarbeit: Thesenpapier, Handout und Umsetzung einer Seminarpräsentation (90 Minuten)